Mechanical Bride

Halb gare Folklore aus dem digitalen Zeitalter.

Eine europäische Medienplattform?

Ich hatte kürzlich darüber geschrieben, wie Europa an der digitalen Nabelschnur der USA hängt. Die Gefahren dieser Abhängigkeit sind vielfältig. Zölle auf digitale Dienstleistungen können unsere Wirtschaft belasten, europäische Daten sind für US-Nachrichtendienste einsehbar – und wenn es hart auf hart kommt, könnte der Zugang zu den US-Anbietern politisch unterbunden werden. Gerade die systemkritische Verwaltung in EU-Ländern, die fast vollständig auf Microsoft-Dienste setzt, ist ein heikler Schwachpunkt.

Dann ist da noch ein weiterer Punkt aus meinem Artikel: Propaganda. Der Begriff sollte dabei etwas weiter und neutraler gedacht werden als wir es – historisch-bedingt – in Deutschland tun. Es geht nicht nur um ideologische, politische Kommunikation, die stumpf wiederholt wird. Es geht hier ganz allgemein um faktenbasierte und pluralistische Meinungsbildung.

Meinungsbildung ist essentiell in einer Gesellschaft, die auf Beteiligung setzt. Wer nicht gut informiert ist, kann keine fundierte Entscheidung an der Wahlurne treffen. Simple as that. Wir brauchen einen öffentlichen Diskurs darüber, wie die Gesellschaft aussehen sollte und welche politischen Entscheidungen jeder Einzelne entsprechend befürwortet oder eben nicht. Dabei reicht es nicht, jedem und allen zu ermöglichen, ihre Meinung kundzutun. Der libertäre Ansatz, den Elon Musk zum Beispiel verfolgt, ermöglicht meist keine funktionierende Meinungsbildung. Der öffentliche Diskurs muss vielmehr ausbalanciert sein, er darf nicht von wenigen Akteuren beherrscht werden und muss im Sinne des Pluralismus, einem weiteren Kernprinzip der Demokratie, funktionieren. Eine gewisse Steuerung (nicht inhaltlich, aber über die Rahmenbedingungen des Marktes und er Politik) ist notwendig.

Bei der Gründung der Bundesrepublik war man sich dessen bewusst. Vor allem die amerikanischen und britischen Besatzer wollten eine funktionierende Meinungsbildung von Anfang an verwurzeln. Freie und unabhängige Presse. Dafür wurden Lizenzen zur Gründung von Zeitungen an Journalisten vergeben, die einigermaßen unbefleckt durch die NS-Zeit gegangen waren. Aber der große Wurf war die Gründung eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach dem Vorbild der BBC.

Die ARD ist im Prinzip also auf eine internationale Initiative zurückzuführen, wenn auch als nationale Medienanstalt konzipiert (heute gibt es mit arte und 3sat allerdings auch grenzüberschreitende Kooperationen). Die größte Herausforderung war es damals, den ÖRR vor politischer Einflussnahme zu schützen. In den späten 40er-Jahren war der Eindruck des Nazi-Regimes noch sehr frisch, entsprechend sah man eine potentielle Gefahr vor allem von Innen, vom Staate aus. Eine Herausforderung, die sich gut durch rechtliche und strukturelle Maßnahmen regeln lies. Die Massenmedien (Print, Radio, etwas später auch Fernsehen) konnten recht einfach kontrolliert werden. Und "kontrolliert" ist hier im positiven Sinne gemeint. Man konnte sicherstellen, dass dort unabhängiger Journalismus stattfand – und keine Propaganda.

Heute ist die Situation eine ganz andere. Die ganze Mediensphäre ist insgesamt dezentralisierter, in Teilen aber auch sehr monopolisiert und vor allem globalisiert. Alles ist unübersichtlicher und Regulierungen viel schwieriger umzusetzen. Die größten Kommunikationsplattformen in Europa sind nicht europäisch und Meinungsbildung findet zum großen Teile nicht mehr über professionelle Medienbetriebe statt, sondern als Netzwerk von Individuen. Das Zeitalter von Plattformen und der weltweiten Vernetzung eben.

All das bedeutet: Die Politik hat kaum noch Gestaltungsmöglichkeiten, um eine faktenbasierte Meinungsbildung zu ermöglichen. Auch die (in Deutschland vergleichsweise sehr starken) öffentlich-rechtlichen Medien verlieren an Dominanz. Wenn auch auf hohem Niveau, wie die letzte Akzeptanzstudie der ARD zeigt: Der Senderverbund erreicht immer noch 76 % der Deutschen. Allerdings wird die Konkurrenz immer stärker – und kommt vor allem aus ganz anderen Richtungen. Wo man früher um den Knopf auf der Fernbedienung mit ein paar privaten Anbietern konkurrierte, wird heute die Zeit des Medienkonsums ganz anders verteilt. YouTube, TikTok, Netflix. Reels und StatusUpdates, Tweets und Podcasts. Das Angebot ist unglaublich vielseitig geworden, während der Tag weiterhin 24 Stunden hat.

Wie also können wir in Zukunft dafür sorgen, dass eine faktenbasierte, aufgeklärte Meinungsbildung möglich ist? Damit dieses grundlegende Erfordernis unserer Demokratie nicht verloren geht?

Der wichtigste Schritt ist wohl, dass man souverän und handlungsfähig bleibt. Also nicht zum Spielball von Tech-Konzernen oder gezielten Manipulationen aus dem Ausland wird. Um dies zu erreichen, braucht man ein eigenständiges Angebot, das die Konsumenten auch überzeugt. Eine eigene Plattform, geschaffen für das digitale Zeitalter.

Solch eine zu etablieren, ist eine gewaltige Herausforderung. Man könnte es mit brachialer politischer Regulierung probieren, aber das würde wahrscheinlich nur viele Steuergelder schlucken und zu gut gemeinten, aber verwaisten Plattformen führen. Eine Portion aus dem Sondervermögen der neuen Regierung würde nur begrenzt helfen. Geld ersetzt kein Konzept. Politische Rahmenbedingungen und Anreize sind sicherlich ein wichtiger Teil, aber auch die Plattformökonomie muss gekonnt bespielt werden. Und das bedeutet:

  • Daten sammeln, um individuelle Empfehlungen auszuspielen und die Nutzer zu verstehen
  • eine kritische Masse an Nutzern von Tag 0 an haben, um von Netzwerkeffekten zu profitieren
  • Inhalte anbieten, die es woanders nicht gibt
  • Sicherheit bieten, also vor allem das Thema Moderation in den Griff bekommen
  • Eine Finanzierung sicherstellen, die Unabhängigkeit von einzelnen Einflussversuchen ermöglicht

Das klingt wie eine fast unlösbare Aufgabe. Aber man muss nicht bei Null anfangen. Die Daten fehlen, aber die Nutzerschaft ist da, man muss sie nur erheben und für weitere Entwicklungen nutzen. Das Archiv der Öffentlich-Rechtlichen ist reich an hochwertigen Inhalten, die die Basis für eine Plattform bieten könnten. Dazu müssten nutzergenerierte Videos kommen. Eine interessante Mischung, die gleichzeitig hochwertigen Journalismus, aber auch Emanzipation bieten könnte. Künstliche Intelligenz kann helfen, die Sprachbarrieren in der EU zu überwinden und eine grenzüberschreitende Plattform ermöglichen. Der uralten Herausforderung einer europäischen Öffentlichkeit wäre damit auch geholfen.

Philipp Bovermann hat in der SZ kürzlich solch eine Vision entworfen und dabei den klugen Gedanken aufgebracht, dass es keine einzelne Monsterplattform sein sollte, sondern eher eine Schnittstelle zwischen vielen einzelnen. Diese können national sein, aus dem privaten oder öffentlich-rechtlichen Sektor. Auf Unterhaltung oder Journalismus spezialisiert. Wie auch immer. Wichtig ist Vernetzung und ein gemeinsames Verständnis der Nutzerbedürfnisse.

Und wer jetzt denkt: Das sind schöne Fantasien, aber die Europäer raffen sich nicht zusammen, machen alles mit Bürokratie zu kompliziert und der Datenschutz unterbindet eine moderne Plattform sowieso. I hear you and I feel you. Aber hilft ja nichts. Wenn wir nicht handeln, haben wir keine Kontrolle mehr über so etwas grundlegendes für unsere Demokratie wie die Meinungsbildung. Die Russen, die Chinesen und die Amerikaner wissen mehr über unsere Bürger und haben mehr Einfluss auf die Öffentlichkeit als wir selbst. Es ist Zeit, groß und mutig zu handeln.

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