Mechanical Bride

Halb gare Folklore aus dem digitalen Zeitalter.

Europa und die digitale Nabelschnur in die USA

Souveränität ist das Wort der Stunde. Während die Weltordnung gerade in Bewegung ist, wie seit mindestens 30 Jahren nicht mehr, schaut Europa auf sich selbst und fragt sich – können wir überhaupt alleine? Es geht um die Verteidigung, die Wirtschaft, die Energie. Ein Aspekt scheint mir dabei unter den Tisch zu fallen: die digitale Souveränität. Im Wahlkampf hat es Habeck mal erwähnt. Zu spät, zu wenig.

Bevor wir darüber reden, warum es ein brennendes Thema ist, zuerst eine Definition des Begriffs vom Beauftragten für Informationstechnik der Bundesregierung:

„Digitale Souveränität“ beschreibt „die Fähigkeiten und Möglichkeiten von Individuen und Institutionen, ihre Rolle(n) in der digitalen Welt selbstständig, selbstbestimmt und sicher ausüben zu können".

Wichtig dabei: Es geht nicht um Autarkie. Es muss nicht ausschließlich auf eigene Ressourcen zugegriffen werden, keine Abschottung. Aber eben Systeme, die jedem Beteiligten Selbstbestimmtheit ermöglichen. Hört sich erstrebenswert an, oder? Insbesondere unter dem Eindruck der aktuellen Situation im Weißen Haus – und das es aussieht, als würde Europa Gefahr laufen, zum Spielball der Großmächte USA, Russland und China zu werden.

Also, wie steht es um die digitale Souveränität in Deutschland, in Europa?

Es war Trumps erste Amtszeit 2017, die mich zum ersten Mal über unsere Abhängigkeit der US-Cloud nachdenken ließ. Was, wenn die USA nicht mehr verlässlich sind? Was, wenn die Nabelschnur gekappt wird? Wie schnell könnten wir die Dienste ersetzen, was würde alles betroffen sein? Jetzt, einige Jahre später, ist die Frage deutlich realistischer und drängender geworden.

Macht man sich mal bewusst, was für Dienste man den Tag über nutzt, wird einem das Ausmaß im privaten und auch beruflichen Bereich deutlich. Auf der Arbeit (WDR) verbringe ich den Arbeitstag in Office 365 von Microsoft. Teams, Outlook, Sharepoint. Bei meinem alten Arbeitgeber (Digitalagentur) kam dazu noch Slack, Dropbox und bei den Designern Figma. Die Hardware war damals ein Macbook, heute ein Laptop von HP. Abends schauen wir Netflix, bestellen Kleinigkeiten bei Amazon. Familienfotos liegen in der iCloud, die Familie erreicht man über WhatsApp.

Und das ist jetzt nur, was für Anwender sichtbar ist. US-Unternehmen haben einen Marktanteil am Cloud-Business von etwa 70 Prozent weltweit. Das ist das Rückgrat des Webs, auch in Deutschland. Immer noch unterschätzt wird auch die Einflussnahme durch die Sozialen Netzwerke. Diese sind nunmal (außer Mastodon als kleine Fußnote) in der Hand der Amerikaner. Unser Geschreibsel auf Facebook mag banal wirken, aber wir verbringen verdammt viel Zeit (101 Minuten im Schnitt, bei jüngeren wesentlich höher) auf den Plattformen und sind entsprechend empfänglich für Einflussnahme durch Algorithmen, die nicht transparent sind. Und dann gibt es die neue Schlüsseltechnologie Künstliche Intelligenz. Wer morgen erfolgreiche Unternehmen in dem Bereich beheimaten möchte, muss heute investieren. Die USA haben 2024 97 Milliarden US-Dollar an Wagniskapital in KI-Startups gesteckt, Deutschland kommt auf etwa 2 Milliarden.

Die Abhängigkeit ist also groß, aber was könnte überhaupt passieren? Was sind die Szenarien? Die Unsicherheiten gehen nicht von den Unternehmen selbst aus. Microsoft oder Apple haben großes Interesse an einem florierenden Geschäft mit europäischen Kunden. Die Gefahr besteht in politischer Einflussnahme.

Wirtschaftlichkeit, Propaganda, Datenschutz und Zugang. Das sind die Gefahren.

Ungefähr geordnet von weniger schlimm bis Katastrophe. Der abendliche Verzicht auf Netflix oder der Verlust der KiTa-Eltern-Gruppe auf WhatsApp wird zu verkraften sein, aber wir sprechen hier auch von kritischer Infrastruktur: Behörden, Schulen, Energieunternehmen, Militär, Verkehr, Medien ... Insbesondere Microsoft ist hier der große Player, der mit seinen Office-Produkten den Standard anbietet. Laut dem Zentrum für Digitale Souveränität der Öffentlichen Verwaltung sieht die Abhängigkeit dramatisch aus:

96 Prozent der Verwaltungsangestellten im Bund arbeiten täglich mit Microsoft-Produkten. 80 Prozent der Verwaltungsdaten werden in Datenbanken des US- Anbieters Oracle gespeichert und 75 Prozent der Virtualisierungslösungen kommen von VMWare, ebenfalls aus den USA.

Neben der Abhängigkeit fließen natürlich auch eine Menge Gelder an die US-Unternehmen:

Allein der Bund gab 2023 mehr als 1 Milliarde Euro für Software Lizenzen aus, 57 Prozent mehr als imVorjahr. Der Rahmenvertrag der Bundesregierung mit Oracle beläuft sich auf 4,6 Mrd. Euro. VMWare diktierte Ende 2023 Preissteigerungen um bis das Zwölffache.

Zölle können die Preise hochtreiben, aber selbst ohne Zölle, ist man Preiserhöhungen relativ schutzlos ausgeliefert und erpressbar, wenn man Monopolen ausgesetzt ist. Microsoft nutzt das ebenfalls gerne aus. Und wo es Alternativen gibt, sind Migrationen teuer und zeitaufwändig. Unternehmen werden warten bis es zu spät ist, weil es wirtschaftlich einfach unattraktiv ist.

Eine Propagandaschlacht in Form von politischer Einflussnahme auf Wahlen und gesellschaftlichen Diskussionen auf den Plattformen erleben wir bereits jetzt. Die Russen agieren überall, Musk hat die Kontrolle über X (und darf als Teil der US-Regierung gesehen werden) und die Chinesen haben mit TikTok ein Angebot, das an digitales Crack erinnert. Dieser meinungsprägende Aspekt ist besonders gefährlich, weil er unbemerkt und schleichend daherkommt. Während eine Zollerhöhung oder Blockaden in den Headlines der Nachrichten landen, ist der Siegeszug über unsere Köpfe sehr leise und die Kausalität nicht offensichtlich. Um nur ein besonders gravierendes (so gravierend, das es offensichtlich wurde) Beispiel zu nennen: In Rumänien wurde eine Wahl annulliert, weil ein unbekannter Rechtsradikaler über/von TikTok gepusht wurde:

Die Geheimdienste hatten unter anderem festgestellt, dass Tausende zuvor inaktive TikTok-Konten vor der Wahl plötzlich angefangen hatten, Georgescus Inhalte massenhaft zu verbreiten. Obwohl sein Konto nur wenige Abonnenten hatte, wurden seine Videos teils millionenfach angeschaut. 

Was, wenn die Amerikaner einfach die Daten abfischen, die wir tagtäglich in die US-Dienste einspeisen? Höchstwahrscheinlich tun sie es bereits jetzt, aber in politisch begrenztem Umfang. Wenn die angespannte Situation, die wir jetzt haben, zu einem echten Konflikt wird, hätten die Amerikaner Einsicht in die meisten Datenströme der Europäer. Wir sind potentiell ein offenes Buch. Wir erinnern uns alle an Merkels Aussage zu den Snowden-Leaks: "Ausspähen unter Freunden geht gar nicht." Da fragt man sich, was man von den USA erwarten kann, wenn man nicht mehr so freundschaftlich unterwegs ist.

Und dann gibt es noch den Worst Case: Der Zugang zu US-Diensten wird von einem Tag auf den anderen gesperrt. Es gibt keine Updates mehr, keine Cloud-Verbindung, ganze Infrastrukturen sind gestört. Daten nicht mehr abrufbar, Kommunikation nicht mehr möglich. Bei fehlender Datensicherung (was bei Cloud-Angeboten durchaus oft der Fall ist) wäre eine Migration auf ein Alternativsystem nicht mehr möglich, weil die Daten einfach futsch sind. Ein aktuelles Beispiel, wo eine Abschaltung droht, ist der Zugang der Ukrainer zu Musks Starlink. Der Zugang zu der Infrastruktur soll wohl als Druckmittel herhalten, dass die Ukraine Zugang zu den Seltenen Erden im Land ermöglicht. Mangelnde Souveränität macht eben erpressbar.

Die Szenarien oder Bedrohungen sind vielfältig. Die Lösung wird sicherlich nicht darin liegen, dass wir das Rad neu erfinden und uns abkapseln von internationalen Entwicklungen. Aber wir müssen grundlegende Technologien und Tech-Dienste made in EU fordern, strategischere Entscheidungen bei der Wahl der Anwendungen treffen und einen Plan B für die jetzige Abhängigkeit haben.

Nur, welche Alternativen gibt es eigentlich für Europäer? Wo passiert bereits etwas, was sind die konkreten Bestrebungen nach mehr Souveränität? Welche Rolle sollte Open-Source spielen? Die Fragen treiben mich um und darüber möchte ich in nächster Zeit mehr schreiben.

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